Als Elternvertreter bekomme ich auch mal Anfragen, die mich zum Nachdenken bringen, und deren Antwort ggf. etwas umfangreicher ausfällt. Und das hier ist so ein Fall.
Eine Mutter schreib:
Lieber Herr Tralles,
Was ich einfach nicht verstehen kann ist, warum ein vernünftiger Onlineunterricht nicht funktioniert?
Es ist ja nicht so, dass das überall in Deutschland so ist.
Mein Neffe hat an seiner Gesamtschule seit dem 2. Lockdown jeden Tag durchgehend Unterricht, nur eben online. Die hatten schon im ersten Lockdown mehrheitlich Onlineunterricht und im zweiten komplett.
Ein wenig Onlineunterricht hatten unsere Kinder ja auch, es geht also,.aber das ganze ist viel zu selten. Haben Sie eine Erklärung bekommen, woran das liegt,.und warum sich nur wenig bessert?
… und das ist meine Antwort:
Ich bin Programmierer und „meine Software“ ist für die Besucherverwaltung in Museen. Da diese Museen nun alle geschlossen sind, haben wir ein update programmiert, somit können die Museen nun Video-Führungen anbieten (wie z.b. das Museum Barberini).
Was ich sagen will: wenn man unter Selektionsdruck steht, dann findet man auch Wege um zu überleben. Aber. Dem Schulsystem in Deutschland fehlt es jedoch meiner Meinung nach an diesem Druck. Das liegt nun ebenfalls meiner Meinung nach an einer Kombination problematischen Faktoren (wobei die Reihenfolge nicht die Priorität darstellt):
Fehlende Ausstattung
Im Idealfall kommen die Lehrer jeden Tag in die leere Schule, stehen im Klassenraum und unterrichten mit einer Webcam vor einem „big screen“, auf dem alle Kinder an einer Video-Konferenz teilnehmen.
Die Schule hat weder genügend Computer, noch die notwendige Netzwerk-Anbindung um mehrere Video-Konferenzen gleichzeitig anbieten zu können.
Der Digitalpakt Schule ermöglicht es der Schule (theoretisch) in jeden Klassenraum WiFi und Netzwerk zu installieren. Es sind von den 5½ Milliarden Euro des Förderprogramms erst 20% bewilligt. Für unsere Schule sind alle Anträge bereits bewilligt, und wir haben einen Stufenplan, der im September nächsten Jahr sogar eine entsprechend ausgebaut Internetanbindung vorsieht.
Ich bin Mitglied im Cyber4Edu Verein, und ich kann dazu eine Podcast-Episode aus dem Logbuch Netzpolitik empfehlen.
Fehlendes Engagement
Nun könnte man natürlich sagen, dann sollen die Lehrer das halt von zuhause aus machen. Aber. Es gibt Lehrer die ganz klar sagen, dass sie grundsätzlich nicht von zuhause aus Video-Streaming machen werden.
Die nicht ganz so arg verweigernde Haltung ist: Das mach ich gern, aber erst wenn der Schulträger einen vollständig ausgestatteten Computer und einen passenden Internetanschluss (z.b. als LTE-Accessopoint) zur Verfügung stellt.
Aber: der Schulträger macht das nicht macht, weil das kostet ja auch alles Geld - Ausgaben die im Haushalt nicht vorgesehen sind. Daher weiß ich persönlich nicht, ob Argument A nicht aufrichtiger ist, als sich hinter der inflexiblen Verwaltung zu verstecken …
Fehlendes Problembewusstsein
Das lernen.barnim.de keine echte Lernplattform ist, wird auf den ersten Blick klar. Aber halt nicht jedem. Die Schulleitung steht nun vor der der Wahl: nichts machen, oder etwas unternehmen.
Leider gibt es auch hier nur Stillstand, denn für den „etwas unternehmen“-Ansatz gäbe es 3 Möglichkeiten:
1. Datenschutz egal
Na, dann nimmt man halt Zoom setzt Tools wie Teams von Microsoft ein und hat im zweifelsfall einige Kinder / Familien abgehängt, weil sich auf einem chromebook eben keine software installieren lässt …
2. Datenschutz: selbst gemacht
Der Cyber4Edu versucht Schulen in die Lage zu versetzen, eigne Plattformen sicher zu betreiben. Also jitsi, big-blue-button, Moodle, … - muss natürlich erstens auch Bezahlt werden (könnte im Notfall der Förderverein, wenn die Schule / der Schulträger das nicht bezahlen kann / will) und dann auch betreut werden. Dazu braucht die Schule einen Admin. Die Informatiklehrer bieten aber nicht einmal eine „IT AG“ an, weil es dafür keine Stunden gibt …
3. auf moderne Software umsteigen
Da fällt natürlich zu erst die HPI hpi-schul-cloud.de ein. Das wurde auch in der Schulkonferenz gefragt. Zum Glück nicht nur von mir. Aber der Schulträger hat gesagt: „wir bezahlen für lernen.barnim.de und wissen noch gar nicht, was hpi-schul-cloud.de mal kosten wird. Da wir nicht für 2 System parallel zahlen wollen, bleiben wir bei dem, was wir haben.“.
Das führt aber dann auch quasi nathlos zum nächsten Aspekt, nämlich, die …
Fehlende Vision
Eine „gute Schule“ braucht selbstverständlich auch Vision, wo sich der Unterricht hin bewegen soll, wie Unterrichtskonzepte aussehen können. So eine Vision fehlt meiner Meinung nach.
Wenn wir im Juni 2022 Herden-Immunität haben, dann wird es für unseren Jahrgang ein „normales“ Abitur geben.
Aber dieses „normal“ bedeutet nicht etwa, dass man aus dann 2 Jahren Pandemie etwas gelernt hätte, sondern dass es wieder nur Frontalunterricht gibt, daß Lehrer ihren Plan abarbeiten, wie sie es die letzten 20 Jahre schon gemacht haben.
Ich bin mir sicher, dass so eine Vision „von Oben“ durchgesetzt werden muss. Natürlich gibt es Lehrer, die mit der aktuellen Situation „unzufrieden“ und sicherlich auch „überfordert“ sind, und es gibt Lehrer, wie diese neue Geschichtslehrerin, die einfach hemdsärmlig ZOOM anfordert, obwohl der Schulleiter immer wieder „es wird nur die schulplatform lernen.barnim.de genutzt werden“ mantraartig wiederholt. Aber da nicht „alle Lehrer“ (oder zumindest die überwiegende Anzahl) mit innovativen Angeboten daherkommen, muss der Schulleiter eine Vision transportieren.
Leider muss ich sagen, dass ich nicht das Gefühl habe, dass es so eine Vision gibt. Und ich weiß auch nicht, ob es an der Schulleitung oder dem Schulträger liegt. Aber Aussagen wie „wir haben keine Desinfektionsmittelspender im Gymnasium weil der Schulträger Alkohol als Gefahrstoff einstuft, der nicht unbeaufsichtigt vorgehalten werden darf“ lassen Raum für Spekulationen, ob die Schulleitung nicht will oder nicht darf …
keine Druckmittel
… und hier kommen wir Eltern und Familien ins Spiel.
Wir haben kein Druckmittel.
Was sollen wir auch machen? Wir können unsere Kinder ja nicht von der Schule nehmen. Wo hin sollen wir hin gehen? Und nicht zuletzte stehen ja auch andere Schulen mit den gleichen Problemen da. Ich sehe halt die strukturellen Probleme bei allen öffentlichen Schulen.
Und private Schulen kommen Erstens für die Meisten eben auch nicht in Frage (insbesondere das Schulgeld ist ja auch gerade vor den wirtschaftlichen Zwängen von Kurzarbeit und / oder coronabedinger zweitweiser Arbeitslosigkeit häufig schlichtweg „unmöglich“) und Zweitens skalieren ja Privatschulen nicht (denn irgednwann wird es Öffnungen geben und dann müssen die Kinder vor Ort unterrichtet werden).
Und selbst wenn einige priviligierte ihre Kinder ummelden, ist das keine Option für „alle“, also wird sich an der Gesamtsituation nichts ändern.
Darum auch mein Aufruf zum Eintritt in den Förderverein. Es wird wohl noch im ersten Halbjahr eine Mitgliederversammlung geben und ich hoffe, dass es hier Möglichkeiten gibt, auf die Schule einzuwirken.
Oh mann.
Ein halber Roman geworden.
Entschuldigen Sie das bitte.
Ich bin auch einfach sehr enttäuscht - und das im besonderen Maße, da ich weiß dass und wie es besser gehen würde. und schließlich wollen wir doch für unsere Kinder nur das Beste …
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie einen entspannten Abend und danke ihnen für ihre Ausdauer bei meiner länglichen Auslassung. Es hat wirklich lang gedauert, den Newsletter so zu formulieren, dass es die notwendigen Anliegen und Neuigkeiten transportiert ohne dass man vom Lesen schlechte Laune bekommt :)
Herzliche Grüße,
Marco Tralles
Kommentare
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